von Dr.-Ing. Alfred Müller
"Am 29. Dezember 1932 hatte der Generaldirektor der Deutschen
Reichsbahn-Gesellschaft, Dr.-Ing. E. h. Dorpmüller, Vertreter der
Behörden, der Industrie und der Wirtschaft zu einer Probefahrt mit
dem neuen Schnelltriebwagen auf der Strecke Berlin-Hamburg und
zurück geladen. Der von der Waggon- und Maschinenbau A.-G. (Wumag)
in Görlitz zusammen mit der Maybach-Motorenbau G.m.b.H. und den
Siemens-Schuckert-Werken entworfene und gebaute Triebwagensatz
besteht aus zwei in der Mitte kurz gekuppelten Wagenhälften, die an
der Kupplungsstelle auf einem zweiachsigen Jakobs-Drehgestell ruhen.
Beide Wagenhälften bilden eine Zugeinheit von rd. 42 m Länge, die
sich aus zwei völlig selbständigen Teilen zusammensetzt und an
beiden Enden einen Führerstand besitzt, so daß der Wagen, ohne auf
einer Drehscheibe oder Schleife zu wenden, in jeder Richtung
gefahren werden kann. Der Triebwagensatz bietet insgesamt für 102
Fahrgäste 2. Klasse Sitzgelegenheit und ist zur einen Hälfte als
Raucher -, zur anderen als Nichtraucherabteil ausgebildet; beide
Hälften sind durch Faltenbalg miteinander verbunden. Die Sitzplätze
sind zu beiden Seiten eines durchlaufenden Ganges so angeordnet, daß
auf der einen Seite an der Fensterwand je ein Sitzplatz, auf der
anderen je drei einander gegenüber vorhanden sind.
Die Wagenkasten sind im Spantenbau mit tragenden Seitenwänden
ausgeführt und haben weder Zug- noch Stoßvorrichtungen. Um im
Bedarfsfalle abgeschleppt werden zu können, hat der Triebwagensatz
an jedem Kopfende eine Öse, in die eine im Wagen mitgeführte
Kuppelstange eingesetzt werden kann, die in den Zughaken des
abschleppenden Fahrzeugs eingehängt wird. Anstelle von Puffern hat
der Triebwagensatz an jedem Kopfende zwei seitlich herausragende
Kopfstücke, die mit Gummipuffern in Form von Halbzylindern
gepolstert sind, um Beschädigungen der sehr leicht gebauten Wagen
beim Rangieren zu vermeiden. Die äußere Form des Wagenkastens wurde
durch Versuche im Windkanal des Zeppelin-Luftschiffbaues gefunden.
Die Wagenenden sind im Grundriß stark abgerundet, die Wagendecke ist
an den Enden weit hinuntergezogen und der Raum unter den Wagenkästen
ist durch tief herabgeführte Blechschürzen verkleidet.
Die Wagenkasten ruhen an den Kopfenden auf je einem zweiachsigen
Drehgestell mit einem Radstand von 3500 mm; an der Kupplungsstelle
ruhen sie auf einem gemeinsamen zweiachsigen Jakobs-Drehgestell von
gleichfalls 3500 mm Radstand. Der Antrieb des Schnelltriebwagens
erfolgt durch zwei 410-PS-12-Zyl.-Dieselmotoren mit 150 mm
Zylinderdurchmesser und 200 mm Hub, mit einem Gewicht von 2030 kg
oder 4,7 kg je PS. Jeder Dieselmotor kann einzeln von jedem
Führerstand aus angelassen werden. Die Motoren werden durch
Kühlwasserpumpen gegen übermäßige Erwärmung geschützt; das erwähnte
Kühlwasser wird in einer unterhalb des Wagenfußbodens aufgehängten
Kühlanlage rückgekühlt. Die Bedienung des Dieselmotors durch den
Führer ist sehr einfach und erfolgt mit Hilfe einer elektrischen
Fernsteuerung durch Veränderung der Motordrehzahl. Wird bei
Leistungsüberschuß die vom Führer eingestellte Drehzahl
überschritten, so wird von der Brennstoffpumpe durch einen
selbständig wirkenden Regler weniger Brennstoff in den Zylinder
eingespritzt. Der Brennstoff wird in Behältern mitgeführt, die für
einen Fahrbereich von rd. 2000 km ausreichen.
Jeder Dieselmotor ist mit einem Stromerzeuger gekuppelt, dessen
Strom unmittelbar jedem der beiden Fahrmotoren zugeleitet wird, die
in dem gemeinsamen Jakobs-Drehgestell untergebracht sind. Die beiden
Maschinenanlagen (Dieselmotor, Stromerzeuger, Fahrmotor) sind
voneinander völlig unabhängig, so daß der Triebwagensatz auch bei
Stillsetzung eines einzelnen Maschinensatzes betriebsfähig bleibt
und dabei auf der Waagerechten noch mit einer Geschwindigkeit von
120 km/h gefahren werden kann. Die elektrische Schaltung wurde nach
dem Gebus-System ausgeführt. Der Stromerzeuger besitzt eine an den
Ankerbürsten liegende Nebenschlußfeldwicklung; eine im gleichen Sinn
wirkende vom Hauptstrom durchflossene Feldwicklung erregt sich
selbst und arbeitet mit schwacher magnetischer Sättigung.
Um Unfälle bei Dienstunfähigkeit des Triebwagenführers möglichst
auszuschließen, ist eine Sicherheitsfahrschaltung eingebaut, die
anspringt, wenn der Führer die Totmann-Kurbel oder einen Fußhebel
auf dem Führerstande losläßt. Der Triebwagensatz ist mit der schnell
wirkenden selbsttätigen Einkammer-Luftdruckbremse (Bauart Knorr)
ausgerüstet. Für die Bremsung werden besondere Bremsbacken mit
Belägen aus künstlichen Reibstoffen verwendet, die auf Bremstrommeln
wirken, die an den Radsternen angebracht sind. Außerdem ist eine
elektromagnetische Schienenbremse vorhanden, die aber nur als
zusätzliche Gefahrenbremse Anwendung finden soll. Mit Rücksicht auf
die hohe Fahrgeschwindigkeit des Schnelltriebwagens mußte der
Abstand der Vorsignale von den Hauptsignalen von 700 auf 1200 m
erweitert werden. Der Bremsweg von 1200 m kann auch bei der
zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h ohne Schwierigkeiten
eingehalten werden.
Anläßlich der Probefahrten des neuen Schnelltriebwagens ist die
Frage aufgeworfen worden, ob damit das Ende der Dampflokomotive in
sichtbare Nähe gerückt sei. Der Generaldirektor der Deutschen
Reichsbahn-Gesellschaft, Dr. Dorpmüller, hat darauf geantwortet, daß
auch in Zukunft die Dampflokomotive noch Aufgaben zu erfüllen haben
werde, die - mit Ausnahme der elektrischen Triebkraft - vorläufig
von keiner anderen Antriebskraft erfüllt werden können. Die
Schnelltriebwagen dienen Sonderzwecken, die unter anderen
Gesichtspunkten gewertet werden müssen als der gewöhnliche
Eisenbahnbetrieb."
von Dr.-Ing. Müller in der Zeitschrift "Verkehrstechnik" vom 20.
Januar 1933, Seite 26
Fundstelle: Alfred B. Gottwaldt: Deutsche Dampflokomotiven der 30er
Jahre, transpress Verlag, Stuttgart 1998, 130f